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Charlotte_ Puppe - Bruder Aural




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Charlotte
Dunkles Geheimnis.



In einem kleinen Antiquitätenladen,
verborgen in den engen Gassen eines verregneten Städtchens, saß eine Puppe.

Auf den ersten Blick wirkte sie wie jede andere antike Puppe:
Sie hatte ein unschuldiges Gesicht mit zarten, rosigen Wangen und großen, sanften Augen, die fast hypnotisch wirkten.
Doch ihre pechschwarzen, glatten Haare und der stumme, geheimnisvolle Ausdruck machten sie unheimlich und bezaubernd zugleich.
Niemand konnte sich erinnern, wie lange sie bereits in der Ecke des Ladens stand.

Es schien, als hätte sie immer dort gesessen, beobachtend und reglos, während Menschen kamen und gingen.
 
Eines Tages betrat ein Mann namens Jakob den Laden. Er war ein Sammler und suchte eine besondere Puppe.
Kaum entdeckte er die kleine Puppe, konnte er den Blick nicht mehr von ihr abwenden. Ihr unschuldiger Ausdruck und die perfekten Proportionen fesselten ihn.

Es war, als würde die Puppe ihn anblicken und in sein Inneres blicken.
Jakob kaufte sie, stellte sie in sein Wohnzimmer und bewunderte sie täglich. Doch schon in der ersten Nacht hörte er ein Flüstern, leise, kaum wahrnehmbar, als käme es direkt aus der Puppe.
Er schüttelte die seltsame Wahrnehmung ab und schrieb es seiner Müdigkeit zu.


 
In den kommenden Tagen jedoch fühlte er sich immer unwohler.
Es schien, als würde die Puppe ihre Position ändern, als würde sie ihn aus den Augenwinkeln beobachten, egal, wo er sich befand.
Eines Nachts, als ein heftiges Gewitter die Stadt heimsuchte, vernahm er erneut das Flüstern. Diesmal deutlicher. „Du bist jetzt mein,“ hauchte eine Stimme. Jakob zuckte zusammen und fand die Puppe direkt vor seinem Bett sitzend.
 
Am nächsten Morgen wurde Jakob tot in seinem Haus gefunden, gestorben an einem scheinbaren Stromschlag durch ein defektes Gerät.

Seine Nachbarn waren erschüttert, doch niemand ahnte, was tatsächlich geschehen war.
Die Puppe landete erneut im Antiquitätenladen, und bald fand sie einen neuen Besitzer: eine junge Frau namens Maria, die die Puppe für ihre Tochter kaufte.

Doch die Tochter weigerte sich, die Puppe anzusehen. „Sie ist böse,“ flüsterte das Kind und wollte nichts mit ihr zu tun haben. Maria ignorierte die Bedenken und stellte die Puppe im Kinderzimmer auf. In der Nacht hörte sie Schritte, die leise durch das Haus hallten, doch als sie nachsah, war niemand dort.

Am nächsten Morgen fand sie das Kinderzimmer verwüstet vor – und die Puppe mitten in der Unordnung.
Wenige Wochen später stürzte Maria eine Treppe hinab und kam dabei ums Leben.

Nach und nach wurde die Puppe von einem Besitzer zum nächsten weitergereicht, doch niemand lebte lange genug, um ihre Geschichte zu erzählen.
Jeder, der die Puppe sein Eigen nannte, starb auf mysteriöse Weise – durch Brände, Stürze, Unfälle, die niemand erklären konnte.

Manche behaupteten, die Puppe sei verflucht, doch niemand konnte es genau sagen.
Heute steht sie immer noch im kleinen Antiquitätenladen, unauffällig, mit ihrem unschuldigen Blick und den pechschwarzen Haaren, als wäre sie einfach nur eine weitere Puppe in der Sammlung.

Nur wenige wagen es, sich ihr zu nähern, und noch weniger würden es wagen, sie zu kaufen.
Doch hin und wieder bleibt jemand stehen, hypnotisiert von ihrem Ausdruck – und für einen kurzen Moment scheint es, als lächele die Puppe verstohlen.


Mannheim 25.10.2024

 



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