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Sophie - Bruder Aural




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Sophie
Wird mich jemals noch jemand lieben?



 
In einer kleinen Stadt, in einem verwinkelten Viertel, stand ein altes Spielwarengeschäft.
In dem großen Schaufenster saß Sophie, eine wunderschöne Puppe mit langen, goldenen Haaren, die wie ein Wasserfall über ihre Schultern fielen.

Sie war früher die edelste Puppe des Ladens, mit feinen Glasaugen, die wie echte funkelten.
Doch jetzt war Sophie nicht mehr ganz vollständig – ein Arm fehlte ihr, und auch ein Bein war abgebrochen. Staub hatte sich auf ihren Kleidern und ihrem Gesicht gesammelt, und ihre Schönheit war leicht verblasst.

 
Trotz ihrer Mängel saß Sophie jeden Tag geduldig im Schaufenster und blickte mit einem leisen Seufzen hinaus auf die Straße. Jeden Morgen beobachtete sie die Menschen, wie sie vorbeigingen – Kinder, die lachend an den Händen ihrer Eltern liefen, Erwachsene, die eilig zu ihren Terminen hasteten, und manchmal auch ältere Damen, die still stehenblieben, um einen kurzen Blick ins Schaufenster zu werfen.
 
Sophie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass jemand stehenblieb und sie mit nach Hause nahm.

Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die gleiche Frage:
"Wird mich jemand jemals noch lieben, so wie ich bin?"
Sie wusste, dass sie kaputt war, und dass die meisten Leute nach neuen, perfekten Puppen Ausschau hielten – Puppen, die glänzten und makellos waren.
 
An manchen Tagen, wenn der Himmel grau war und die Straßen leerer, fühlte sie sich besonders einsam.
Sie erinnerte sich daran, wie sie früher im Laden auf dem besten Regal saß, als die Puppe, auf die jedes Kind mit staunenden Augen blickte. Doch das war lange her. Jetzt schaute niemand sie mehr so an.

 
Eines Nachmittags, als der Regen sanft gegen die Fensterscheiben prasselte, hielt plötzlich ein kleines Mädchen vor dem Schaufenster an. Sie trug einen gelben Regenmantel und hatte leuchtende, neugierige Augen. Das Mädchen schien von den bunten Spielsachen im Fenster gar nicht beeindruckt zu sein, denn ihr Blick blieb sofort bei Sophie hängen.

 
Sophie spürte, wie ihr kleines Herz schneller schlug. „Vielleicht...“, dachte sie. Das Mädchen drückte ihre Nase an die Scheibe und starrte Sophie lange an. Sophie erwiderte ihren Blick, ihre Augen schimmerten leise, als ob sie auf das Mädchen zuflüstern wollte: „Bitte, sieh mich an. Sieh mich wirklich an.“
 
Nach einer Weile zog das Mädchen ihre Mutter an der Hand und zeigte auf Sophie.

Die Mutter schaute hin, aber schüttelte den Kopf, als sie Sophies beschädigte Gliedmaßen bemerkte. Doch das kleine Mädchen ließ nicht locker.
Sie zog ihre Mutter hinein in den Laden, und ein leises Klingen der Türglocke erfüllte den Raum.
 
Sophie konnte nichts mehr sehen, aber sie hörte gedämpfte Stimmen und dann das Quietschen des alten Holzfußbodens, als der Ladenbesitzer mit der Puppe in der Hand nach vorne kam. Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust. War es möglich?

 
Einige Minuten später trat das Mädchen mit Sophie im Arm aus dem Laden. Sie hielt sie so fest, als ob sie etwas Kostbares trug, etwas, das sie nie wieder loslassen wollte. Das kleine Mädchen strahlte, und Sophie fühlte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Hoffnung. Es spielte keine Rolle mehr, dass sie kaputt war, dass ein Arm und ein Bein fehlten – das kleine Mädchen hatte sie gewählt, genau so, wie sie war.

 
Zu Hause angekommen, setzte das Mädchen Sophie vorsichtig auf ihr Bett und zog eine kleine Box mit Nähutensilien hervor.
Mit einer erstaunlichen Geduld und Sorgfalt begann sie, Sophies zerrissenes Kleid zu flicken und ihre Haare zu kämmen. Es dauerte nicht lange, bis Sophie sich wieder wie die schönste Puppe der Welt fühlte, nicht wegen ihres Aussehens, sondern weil sie endlich das gefunden hatte, wonach sie sich gesehnt hatte – jemand, der sie liebte.
 

Von diesem Tag an saß Sophie nicht mehr im Schaufenster, sondern auf dem Regal des kleinen Mädchens, das sie jeden Tag mit Liebe und Zuneigung behandelte. Ihr fehlender Arm und ihr Bein spielten keine Rolle mehr, denn in den Augen des Mädchens war Sophie perfekt – genau so, wie sie war.


Mannheim 17.04.2024

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